Doppelmord | Frank Goyke
1857, Neubrandenburg
Dieser historische Kriminalroman bringt uns Ausschnitte aus der Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns nahe.
Die im Dunkeln
Fachwerk, Lokalkolorit und Licht neben Schatten macht diesen Fall besonders spannend.
Übersetzung
Menschen, die die Herkunft ihrer Vorfahren suchen, haben Interesse an diesem Roman.
Frank Goyke
1961 in Rostock geboren, Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig, Redakteur und Dramaturg in Berlin, freier Schriftsteller, Lektor und Herausgeber; Autor von zeitgenössischen und historischen Kriminalromanen aus der Hansezeit.
Traumreiseziel
Mecklenburg-Vorpommern.
Die Mühlen
In der Gegend gibt es fünf Mühlen, vier davon sind Papiermühlen, zwei davon werden von in das Christentum übergetretenen jüdischen Landbewohnern
verwaltet. Die konvertierten Familien sind zahlreich auch außerhalb der Papierherstellung, der Glaubenswechsel geschah bereits vor Generationen.
Es ist die Zeit von Gustave Flauberts „Madame Bovary“, die man gelesen haben muss.
Renaissance Männer
sind überall anzutreffen, weniger im Adelsgeschlecht und dessen Abgesandte im Notfall, z.B. Oberlandroste; mehr sind sie zu finden im Bürgertum, so treffen sich im Ratskeller Männer, die Apotheker, Chemiker und Bankier oder Pastoren, Lehrer und Forscher oder Arzt, Richter und Landrat sind. Dass ein Mann mehrere Ämter bekleidet bezieht sich ebenfalls auf die Fluktuation in diesen Beschäftigungsfeldern aus unterschiedlichen Gründen.
Der Beruf der Lumpensammler für die Papierherstellung stirbt aus.
Herstellungsmethoden aus Holzschliff oder Zellulose tretenin den Markt ein.
Handwerker aller Kategorien flanieren durch die Handlung dieses Buchs:
Papiermachermeister, Stellmacher, Waagenbauer, Tischlermeister, Kutscher, Bäckermeister.
Spuren der französischen Besatzung finden sich im täglichen Sprachgebrauch der gebildeteren Schicht.
Das vorpommersche Plattdeutsch reichert fast jede Unterhaltung an nicht nur in den Wirtshäusern vor allem in der
gebildeteren Klasse. Die Abneigung gegen Preußen und ihre Vertreter ist greifbar. Es wird sehr viel getrunken. In den Wirtshäusern werden Bekanntschaften vertieft und Vorurteile kultiviert.
Wie mit dem Rittmeister, der jährlich Militärpferde begutachtet und akquiriert, dessen Attitüde Reuter nicht behagt.
Die Konkurrenz zwischen Adel, den omnipräsenten Preußen, dem Bürgertum und den Handwerksgruppen ist gleichzeitig eine Konkurrenz zwischen Orten, unter anderem Neubrandenburg und Stargard, heute heißt der Ort Stargard Burg Stargard und ist nicht mit dem gleichnamigen Ort Stargard in Nordwestpolen zu verwechseln.
Eisenbahn, Pfeifen, Telegraphe, Bilder auf Papier mit Albumin behandelt, Nebelbilder, Landauer und Steinkohlengas prägen das Leben in Stadt und Land. Auswanderer in die USA, die keinen Fuß gefasst haben, kehren zurück. Standesunterschiede machen manche Heiraten unmöglich, uneheliche Kinder werden geheim gehalten.
Arsen pur oder als Lösung wird in Apotheken verkauft
und dient nicht nur der Schädlingsbekämpfung sondern auch der Herbeiführung
von Schwangerschaftsabbrüchen.
1832 brennt eine Mühle aus, wird wieder aufgebaut und steht trotz Wasserschutzvorrichtung unter Wasser beim nächsten Hochwasser.
Alle Gebäude, das Vieh und die Futtervorräte verbrennen.
Fritz Reuter,
Journalist und Schriftsteller, ist die Hauptperson dieses Kriminalromans. Er schreibt auf seinen Manschetten, wenn er sich
Notizen machen will, das liegt wohl an dem damaligen Preis des Papiers, seine Sparsamkeit und seinen vielen Einfällen, die er festhalten will.
Ein männlicher Säugling wird in der Nähe einer der Papiermühlen tot aufgefunden. An seinem Bein findet sich eine Silberkette mit einem Kreuzanhänger,
der die Untersuchungsergebnisse in die Richtung lenkt, Beweise für die Tat bei der Mühlersfamilie zu suchen, weil sie obwohl Christen
konvertiert sind.
Gerüchte verbreiten sich,
das Kind sei von Eltern christlichen Glaubens und werfen den Verdacht der Klatschmäuler, männlicher und weiblicher, auf den Inhaber der Mühle, auch deswegen weil deren Teich der Fundort ist. Dem wissbegierigen Reuter, der sich mit seinen Freunden vor Ort begibt, fällt auf, dass die Gendarmerie, die dem Tatort am entfernteren ist, verständigt wird; in diesem Fall wird das nahe Neubrandenburg von dem ferneren Stargard übertrumpft. Das tote Baby liegt am Teich der Mühle der Davidson Familie.
Die Territorialansprüche Stargards und damit auch des Herzogs, Bruders von Luise von Preußen, werden hier geltend gemacht.
Sein Vertreter ist stets zur Stelle, seine Ansichten werden von den Neubrandenburgern kritisch beäugt. Er widersetzt sich der Obduktion und beharrt auf die Todesursache Totgeburt. Dieser Beamte steht der Anwendung der Fotographie misstrauisch gegenüber. Nach der Obduktion wissen alle, dass es eine Lebendgeburt war; das Kind ertrank oder es wurde ertränkt. Die Version Kindsmord macht die Runde, weil dem Neugeborenen Brei eingeflossen wurde.
Kurz darauf bricht in der Mühle ein Brand aus. Eine Magd und ein Papiermachermeister können sich nicht retten. Die Brandstifter werden
überraschend schnell verhaftet, ihr Ruf als Alkoholiker und Taugenichtse bescheinigt ihnen die Tat. Der Mühler, seine Familie und sein Personal
werden bei der Pächterfamilie untergebracht.
Der Amerikaner des Ortes,
so nennen viele den Rückkehrer, stirbt in der Nähe der Mühle durch Schüsse.
In der Stargardschen Synagoge wird ein toter Säugling gefunden und der Kantor der jüdischen Gemeinde verdächtigt. Das Kind trägt ein Kreuz
wie das erste Opfer.
Der Verdächtige wird bald freigelassen,
weil der Belastungszeuge ein arbeitsloser Stadtstreicher ist.
Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Alkoholismus galten als Beweis für die Unzuverlässigkeit eines Zeugen.
Reuter erfährt bei einem Besuch der Mühlenruine, dass der Mühler seit kurzem durch eingekaufte technische Innovationen seine Nachbarn und
Konkurrenten im Kunsthandwerk des Papiermachens überholt hat, was ihn dazu veranlasst anzunehmen, dass Davidson deswegen angefeindet wird.
Auch auf den Pächter richtet sich sein Verdacht, weil dessen Tochter in ein Kloster verweilt, das kein Kloster ist, sondern ein Damenstift.
Reuter sucht die Örtlichkeit auf ohne Erfolg und ahnt eine unglückliche Liebesgeschichte mit schwerwiegenden Folgen Abtreibung und Flucht.
Reuter kommt in Bedrängnis, als seine Zeitungsartikel über die Handelsvölker der Gegenwart unter Pseudonym zur Sprache kommen. Immer wieder
differenziert sich die gebildetere Klasse von dem Volk, das sie oft als unwissend beschreiben. Auch Reuter nährt seine latenten
Vorurteile und sein Antisemitismus taucht auf, in dieser Hinsicht ist er einer vom Volk wie es damals gelebt hat.
Sein Bild als Schriftsteller und Journalist
bekommt in diesem Ostseekrimi Risse, denn er tritt nicht ohne antisemitische Vorurteile in Wort und Schrift; sogar Brandstiftung des Eigentümers der Mühle, um Assekuranzentschädigung zu bekommen, gehört zu seinen Spekulationen.
Als die Schriften des Mordopfers Walter Killian konfisziert werden auf Veranlassung des Herzogs, ist die Rede von einer kommunistischen Verschwörung, die ihren Anfang in Paris nahm, als ein unbekannter Karl Marx seine Flugblätter verteilte und sein „Manifest der kommunistischen Partei“ verfasste und seinen Weg nach London ging, wo er für den Herald arbeiten musste, weil er Geld für sich und seine Familie brauchte.
In den Augen des Bürgertums und des Volks gelten seit Generationen konvertierte Juden als Juden, die Abstempelung ist besonders augenfällig, wenn es einen Notfall gibt. Tiefsitzende antisemitische Vorurteile oft unterschwelliger Natur äußern sich im Sprachgebrauch. Assimilation ist Hintergrund in diesem Krimi. Demnach wissen heutzutage manche Leute nicht mehr, dass sie aus konvertierten Familien stammen.
Reuter und seine Freunde vermuten Vieles,
sie spekulieren umso mehr, manche Ideen fallen wie ein Kartenhaus zusammen. Nicht nur über Wahlverwandschaften liest man über den Schwager von Louise Reuter und Cousin des Mykenes und Troja Archäologen Schliemann. Die Lösung findet sich in einem privaten Drama eines Mannes mit großen Erwartungen und einer Frau ohne Rückgrat. Diese Liebesgeschichte entfacht das Feuer und wird den Flammen Opfer.
Angereichert durch mecklenburgisches Plattdeutsch, umgeben von Stadttoren, die es noch heutzutage zu besichtigen gibt, begossen durch manche
hiesige Tropfen und den unverzichtbaren Moselwein, gehen, reiten und kutschieren fiktive und reelle Charaktere von Stargard nach Neubrandenburg,
Geschichte von Orten ist hautnah zu erleben.
Persönlich finde ich das vorsorglich spärlich platzierte Mecklenburgische Platt für Leser wie mich, die des Idioms nicht mächtig sind und ein wenig Hamburger Platt verstehen, atmosphärisch gelungen.
Eine Reise durch Mecklenburg-Vorpommern und die Mecklenburgische Seenplatte
inklusive historischer Ausflüge bahnt sich an beim Lesen und nimmt die Stadt Stargard mit, heute Teil der Woiwodschaft Westpommern und der Agglomeration Stettin, Polen, nicht zu vergessen den Weg dahin und vielleicht auch zurück, denn der Autor hat es versäumt in einem Prolog oder Epilog zu erwähnen, um welches Stargard es sich handelt. Manche Grenzen haben sich verschoben, manche Ortsnamen haben sich verändert, so
macht Suche bei der Reisevorbereitung noch mehr Spaß, solange die Reiseorte entschieden sind: an der Mecklenburgischen Seenplatte und an
der Ostsee.
Neubrandenburg, Altentreptow, Burg Stargard, Rödliner See, Cammin, Groß Nemerow, Prillwitz, Cölpin, Sponholz, Trollenhagen, Güstrow,
Stavenhagen, Rostock, Schwerin, Hagenow, Roggenstorf, Greifswald, Teterow, Neustrelitz, Wanzka, heute Blankensee, Waren an der Müritz, Penzlin,
Fleesensee, Kölpinsee, Binnenmüritz, Malchow, die Hünengräber im mecklenburgischen Ramelow; Neustadt-Eberswalde, heute Eberswalde,
in Brandenburg, ein Ort, der den neugierigen Reuter in manche Überlegungen stürzt.
Viele Ortsnamen sind slawischen Ursprungs.
Der Krimi ist nicht nur historisch, er verbindet damit auch die Gegenwart.Kyriaki Sparr Buecher-Logbuch
Orte mit heutigen Namen
Neubrandenburg, Altentreptow, Burg Stargard, Rödliner See, Cammin, Groß Nemerow, Prillwitz, Cölpin, Sponholz, Trollenhagen, Güstrow, Stavenhagen, Rostock, Schwerin, Hagenow, Roggenstorf, Greifswald, Teterow, Neustrelitz, Wanzka, Waren, Penzlin, Fleesensee, Kölpinsee, Binnenmüritz, Malchow; Neustadt-Eberswalde/Brandenburg.
Reiseführer: siehe oben, Mecklenburg-Vorpommern, Mecklenburgische Seenplatte, Ostsee, Brandenburg.
Wirtschaft
Tourismus.
Literaturhinweis
Frank Goyke, Doppelmord, Hinstorff Verlag Rostock 2015