Die Sitzverteilung | Siegfried Lenz
Korrekturen
Die Erzählung „Die Sitzverteilung“ aus dem Band “Die Maske” von Siegfried Lenz las ich im vergangenen Monat. Zu diesem Zeitpunkt schrieb ich die Erstbesprechung. Seitdem fielen mir andere Aspekte der Geschichte auf, die ich nicht berücksichtigt habe.
Nach mehreren Revisionen steht die nachgearbeitete Besprechung ab sofort online.
Die erzählende Person, deren Aufgabe am betreffenden Nachmittag die Verteilung der Platzkarten ist, berichtet über die Menschen auf den Sitzplätzen, ihre Rolle in der Vorgeschichte, ihre Funktion im Publikum, ihr Verhalten vor und nach der Ehrung.
An diesem Nachmittag findet eine Ehrung auf See und gleichwohl eine Trauerfeier statt. Geehrt wird ein Kapitän und betrauert ein gesunkenes Schiff.
Der Umschlag
Minimalismus und Schrift sind auf dem Buchcover zu finden.
Übersetzung
Ich würde die Lektüre in der deutschen Sprache empfehlen, denn es betrifft Norddeutschland.
Siegfried Lenz
Siegfried Lenz hatte Angst vor Wasser als Kleinkind und seine Herkunft sind die Masuren. Seine zweite Heimat wurde Hamburg.
Traumreiseziele
Ohne Zwischenfälle sind es die Nord- und die Ostsee sowie von der Hansestadt Hamburg bis an die Masuren.
Der verunglückte Schoner
Bei Beerdigungen steht oft das Bild des Verstorbenen an prominenter Stelle. Der Sitzverteiler stellt eine vergrößerte Aufnahme des verlorenen gegangenen Schiffes auf. Das Schiff auf dem Bild ist ein betagter Holzschoner namens Britta, der auf Nord- und Ostsee fährt. Er sticht durch große Aufbauten hervor.
Mir kommt eine Greisin in den Sinn, die eine Hochsteckfrisur und eine neue Stola trägt, weswegen sie gleich eleganter, jünger und vielleicht sogar wertvoller wahrgenommen wird.
Die zu ehrende Person ist Kapitän Karsten Klockner, der Britta seit fünf Jahren befehligt. Bei ihrer letzten Reise überbringt ihm der Funker eine Sturmwarnung. Der Kapitän manövriert das Schiff trotzdem in das Gefahrengebiet hinein. Als das Schiff das Zentrum des Sturmes erreicht, erscheint auf der Brücke ein blinder Passagier, der sich als politischer Flüchtling ausgibt. Währenddessen meldet der Maschinist den ersten Totalausfall.
In Sichtweite taucht ein Hochseeschlepper auf,
der ohne ein Notrufsignal empfangen zu haben ein Hilfsangebot unterbreitet. Kapitän Klockner schlägt das Angebot zunächst ab. Über die Annahme des blinden Passagiers, er habe das Hilfsangebot auch seinetwegen abgelehnt, weil der Hochseeschlepper seine Verfolgung aufgenommen hat, kann er nur den Kopf schütteln. Das Schiff wird von mehreren Riesenwellen erfasst, welche die Aufbauten beschädigen, Container von Bord „pusten“ und den Decksjungen „wegspülen“.
Der Hochseeschlepper wiederholt das Hilfsangebot.
Während eines Funkgesprächs mit dem Rechtsberater der Reedereiversicherung teilt der Kapitän mit, dass er seiner Mannschaft freigestellt habe, das Schiff zu verlassen. Nacheinander werden die Männer auf dem Hochseeschlepper empfangen. Der vorletzte, der das Schiff verlässt, ist der Steuermann.
Der Kapitän harrt weiter auf dem Schiff aus und wird bei einem weiteren Funkgespräch ermutigt, seine überaus wichtige Rolle wahrzunehmen und Ausdauer zu zeigen.
Die dahinter versteckte Erwartungshaltung der Reederei, er möge an Bord bleiben, um das Schiffseigentum zu beschützen, ungeachtet seiner körperlichen Verfassung und der Lebensgefahr, in der er sich befindet, lässt sich nicht bestreiten.
Ein erneutes Angebot des Hochseeschleppers hätte der Kapitän wohl zugestimmt, wäre er nicht gestürzt und in der Lage sich zu äußern.
In der einbrechenden Dämmerung taucht ein Fischkutter auf mit Redakteur Diering und ein Photographenteam an Bord. Dieser hört von der Notlage, und will eine „live“ Reportage über ein Schiff und seinen Kapitän, ihren einsamen Kampf gegen die Elemente schreiben. Er mietet einen Kutter, lässt sich hinausfahren, und spricht dem geschwächten Kapitän Mut zu. Später rettet er ihm in einer unter Gefährdung des eigenen Lebens stattfindenden Aktion das Leben.
Der Reedereivertreter überreicht Kapitän Klockner
unter dem Beifall des Publikums das „silberne Steuerrad“. Er hält die Auszeichnung verwundert in den Händen, um sie an seinen Lebensretter weiterzureichen.
Die Erwartung des “Sitzverteilers”, es möge eine bemerkbare Reaktion auf die Übergabe der Auszeichnung an den Lebensretter kommen, erfüllt sich nicht. Die Reaktion des Publikums ist leise: Überraschung, Verblüffung, Verwirrung, Enttäuschung, Verunsicherung, Sprachlosigkeit. Das Schweigen beendet die Erzählung.
Der Erzähler hat die Verantwortung für die Sitzverteilung übernommen.
Die Zuordnung der Sitzplätze ist eine strategische Aufgabe,
der eine genaue Recherche der Vorfälle vorangeht. Die der Recherche hervorgegangenen Schlussfolgerungen tragen zur Entscheidung für die Platzzuweisung bei. Einige Sitzkarten tragen statt des Namens die Berufsbezeichnung, in der Erzählung sind es öffentliche Personen, der Bürgermeister, die Reedereivertreter oder auch die Presseleute. Im Geiste schon entwickelt der “Platzordner” einen Sitzplan, in ständigem Dialog mit sich selbst setzt er diesen Plan um.
An der ersten Reihe sitzen die zu ehrende Person, neben ihr der Bürgermeister, nicht weit entfernt der Reederei Direktor und sein Rechtsberater, der Lebensretter, ein geretteter Passagier.
An der zweiten Reihe sitzen direkt hinter dem Bürgermeister der Steuermann, neben ihm noch ein Reedereivertreter, zwei Versicherungsleute und am Rand der erste Maschinist.
Der für den blinden Passagier und politisch Verfolgten zugedachte Stuhl bleibt leer.
Der Funker des Schiffes
soll in der Mitte einer Reihe sitzen, trotzdem versucht er die Sitzordnung zu verändern, um eher am Rand sitzen zu können und seine Fluchtwege nicht verbauen zu müssen. Weitere Besatzungsmitglieder sitzen weiter hinten. Die beiden Photographen, welche die dramatischen Minuten aufgenommen haben, sitzen am Rand der letzten Reihe.
Der Sitzverteiler beobachtet, ob und in welcher Weise die Sitzenden miteinander kommunizieren. Kapitän und Bürgermeister unterhalten sich über noch nie dagewesenen „Monsterwellen“, Schicksalsschläge der Natur.
Der Steuermann
kündigt dem Kapitän die langjährige Freundschaft und redet mit niemandem. Die Reedereivertreter behaupten, der Kapitän sei nicht gezwungen an Bord zu bleiben. Der Funker missbilligt die Selbstdarstellung der Presse. Schließlich der Redakteur, der von Berufes wegen vor laufender Kamera sich selbst als waghalsiger Retter darstellt.
Aus einem Sitzarrangement und die u.a. deswegen hervorgerufenen Reaktionen der Gäste gewinnt der Stratege hilfreiche Erkenntnisse für die nächste Veranstaltung. Ihm bleibt Empathie erspart.
Eine doppelte Verantwortung
trägt der Kapitän als Schiffskommandant und Vertreter der Reederei und der Versicherung. Einerseits ist er moralisch gegenüber seiner Mannschaft und den Passagieren verpflichtet, andererseits haftet er für die verlorengegangenen materiellen Werte. Er befindet sich in der Geschichte in stetigem Funkkontakt mit der Reederei und zögert den Zeitpunkt des Verlassens des Schiffes zunächst solange hinaus, der rechtlichen Aspekte wohl bewusst:
„Solange der Kapitän an Bord war, gab es keinen Zweifel am Eigentumsrecht des Schiffes“
(Siegfried Lenz, Die Sitzverteilung, S. 73)
Schadensersatz
Ein herrenloses Schiff in Seenot gehört demjenigen, der es birgt. Der Bergende kann auch einen Anspruch auf Bergelohn gegenüber dem Geretteten erheben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet bietet der Hochseeschlepper seine Hilfe nicht unbedingt aus Nächstenliebe an.
Sollten Menschen und Schiff zu Schaden kommen sowie bei dem jüngsten medienwirksamen Schiffsunglück, ist die Verantwortung des Kapitäns in allem Munde. Ein Ereignis wie dieses kann einen Menschen über Nacht ruinieren, sofern er das Unglück überlebt.
Ein Blick in die Havarie-Archive am Beispiel des Jahres 2011 zeigt, wie viel auf dem Spiel steht.©deckchair, alias Kiki Marati
Literaturhinweis
Siegfried Lenz, Die Sitzverteilung aus “Die Maske – Erzählungen”, S. 63-78, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011.