Intendo de Escapada | Miguel Ángel Hernández

Das Versteckspiel der Kunst

Die Verantwortung der Zuschauer. Blickwinkel, Perspektiven sind bei diesem Buchumschlag besonders gefragt.

Spiel mit den Eindrücken

Das Buchcover konzentriert sich auf die Erzeugung von Schockeffekten.

Übersetzung

Der Autor untersucht unter anderem die Ästhetik der Migration.

Miguel Àngel Hernández

Lebt und arbeitet im spanischen Murcia und war zur Vorstellung seines ersten Romans in Hamburg in der Buchhandlung Sautter & Lackmann.

Traumreiseziel

Murcia; Spanien; Paris; Frankreich.

Centre Pompidou, Paris, in der Gegenwart

Der Kunstkritiker Marcos betritt den Saal der Ausstellung “Was die Kunst vor den Augen des Betrachters verheimlicht”.
Unter den vielen weltberühmten Werken findet sich auch die Installation “Fluchtversuch” von Jacobo Montes,
einem der radikalsten Vertreter der Gegenwartskunst, der sexuelle Befriedigung, die ihm sonst verwehrt bleiben würde wegen seiner
genetischen Krankheit, in extremen lebensgefährlichen Akten und Aktionen sucht.
An dem Werk kommt das Publikum nicht vorbei,
denn der Verwesungsgestank, den es verströmt, ist ekelerregend und das Rätsel um die Begleitbilder wirft beunruhigende Fragen auf.
Marcos Erinnerungen, die er zehn Jahre lang versucht hatte zu verdrängen, fluten die Gegenwart.

Er ist ein aufstrebender Verehrer der Künste,

Kunststudent, der die Einsamkeit seines Zimmers liebt,
seine attraktive Dozentin begehrt und extreme künstlerische Performances theoretisch zu analysieren versteht.
Als der Aktionskünstler Jacobo Montes, der an Mukoviszidose leidet, einen Assistenten braucht, dient ihm der junge Marcos
als sein Auge vor Ort; der Künstler gibt vor, und das Aktmodell erledigt dienstbeflissen, effizient, wissbegierig.

Montes sucht ein Objekt für seine neue Installation,

er behauptet, die Wirklichkeit reproduzieren zu wollen, um soziale
Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen; Marcos wird sein Werkzeug und liefert ihm Daten über Menschen, die sich illegal im Land aufhalten, deren
Achillesferse ist, dass sie Geld brauchen.
Aus diesem Pool wird das perfekte Objekt ausgewählt: ein Afrikaner, der Tagebuch in seiner Muttersprache schreibt,
ein wenig Spanisch spricht und eine finanzielle Spritze sucht, um der Alltagsmisere zu entfliehen; dieser Mann glaubt,
er habe die Wahl zu entscheiden zwischen Armut und Freiheit, zwischen Leben im Container,
Heimatillusionen in Call-Shops und Flucht aus einer Box.

 

Er lässt sich in eine Holzkiste einsperren,

die er freiwillig verlassen kann;
doch je länger er es dort drinnen aushält, desto höher wird die Belohnung. Erst viel zu spät erkennt der junge Kunstverehrer Marcos
den verhängnisvollen Pakt.

Sein Ausstieg aus dem Kunstprojekt kann die Installation nicht verhindern.

Das Schicksal des eingeschlossenen Menschen bleibt ungewiss. Niemand sieht ihn aussteigen, aus der Kiste fliehen;
die Zuschauer schwanken zwischen den Mutmaßungen, er habe es überlebt oder er sei gestorben, doch keiner wagt es in Worte zu fassen.
Der junge Proband ist spurlos verschwunden; zurück bleiben nur Kratzspuren und der Gestank. Marcos quält ein ganzes Jahrzehnt die Ungewissheit,
bis er sich fähig zu handeln sieht. Seine finale Aktion enthüllt weniger als sie verheimlicht. Das Rätsel bleibt bestehen,
die Kunst trickst die Realität und den Betrachter aus. Zurück bleibt das stinkende Gewissen des Publikums,
das sieht und gleichzeitig die Augen verschließt vor dem, was es nicht sehen will, Gefühlskälte, Armut, Tod, Missbrauch, Mord, Ausgrenzung.

Die Gleichgültigkeit des Betrachters,

seine Indifferenz, seine Teilnahmslosigkeit, seine Handlungsunfähigkeit ebnet derjenigen
Kunstströmung den Weg, die käufliche Entscheidungen instrumentalisiert, Realitäten zerstückelt und menschliche Würde nachlässig behandelt.
Kunst erliegt hier der Verführung, Leute durch Übertreibung wachrütteln zu wollen; dabei entgleist sie selbst- und aktionsverliebt,
der Ästhetik verfallen, die Moral verachtend.

 

Für den Ich-Erzähler Marcos ist die Literatur letzter Zufluchtsort,

seine persönlich erlebte Geschichte, unter Anwendung deren stilistischer Rafinessen dem Leser zu vermitteln.
“Fluchtversuch” ist die gelungene Flucht aus der Kunst- in die Literaturwelt,
die Metapher mancher Fluchtversuche aus der Realität und der Appell, die passive Rolle als Produkte der modernen Realitäten
zu verlassen und sich auf die eigene Verantwortung als handelnde Mitgestalter der Wirklichkeit global zu besinnen.

Die ethische Frage, ob ein Todkranker die Freikarte andere zu manipulieren besitzt wie in diesem Roman, steht im Raum ohne Antwort.

©Kyriaki Marati-Sparr Buecher-Logbuch

Tatorte:

Murcia/Spanien; Paris/Frankreich; Centre Pompidou
Reiseführer:
siehe oben

Wirtschaft
Tourismus, Call-Center, Kunstausstellungen, Centre Pompidou, Bildung, Sprachen

 

Literaturhinweis

Miguel Ángel Hernández, Fluchtversuch, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2014, €16,90.

 

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