Spook Street Ein Fall für Jackson Lamb | Mick Herron
LITERATURANGABE
Autor: Mick Herron
Verlag: Diogenes
Erschienen: Zürich 2021
Übersetzung: Stefanie Schäfer
Umfang: 464 Seiten
ISBN: 978-3-257-30084-0
Preis: € (de)
BUCHCOVER
Ein Durcheinander von Straßennetzen stoppt die Bewegung. Alles steht still, ob Mensch, Wagen oder Licht. Wie ausgestorben mitsamt seiner einzelnen Elemente ist das Buchcover ein Hinweis auf das, was kommen wird, wenn die Story ihren Lauf nimmt und der Nebel des Vergessens um die Ecke schleicht, doch eins auslässt. Reflexe und Automatismen in Schach zu halten, damit keiner zu Schaden kommt.
ZIELGRUPPE
„Spook Street“ ist (un)freiwillig komisch. Denn alte Agentinnen können immer noch gefährlich sein. Neuzugänge des Geheimdiensts wirken abwesend und ausgemusterte Mitarbeiterinnen leiden entweder an Alkoholismus, Burn-Out oder Langeweile. Das System verbeamteter Ermittler bleibt am Rande des Geschehens. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhellen den Alltag. Insgesamt ist es eine geheimdienstliche Spätmoderne, die sich an den Kalten Krieg nicht mehr erinnern kann, bis auf das Schießen bei Verdacht.
Anti-Heldentum trifft auf den ausverkauften 007 oder ist vielleicht genau letzterer sein Quantum Tragikomik bewusstgeworden, nachdem er in die Jahre gekommen ist.
Sogar eine Frau übernahm seine Position.
EINLEITUNG
Demenz schützt vor Impulsen nicht.
Oder sind es sogar Instinkte, die hier Leben retten? Ein eingespieltes Duo aus Enkel und Großvater führt fast jeden hinters Licht. Bis auf Jackson Lamb, Chef des Slough House. Er spielt mit und sucht die entflohenen Mörder, die einen Mörder zur Strecke gebracht haben. Die Reise zwischen Großbritannien und Frankreich darf beginnen und mit ihr ein Horror-Trip unglaublicher bis unglaubwürdiger Ereignisse, die vor Erziehung zum Fanatismus warnen.
INHALTSANGABE
River Cartwright ist jung. Trotzdem fristet er sein Dasein in einer unscheinbaren Zentrale für arbeitslos gewordene Geheimdienstagenten, weil er wie alle anderen dort bei einer Mission den Kürzeren gezogen hat. Diese ehemaligen erledigen gegenwärtig Schreibtischarbeit und langweilen sich. In seiner Freizeit kümmert sich River um seinen Großvater David Cartwright, der pensionierter Geheimdienstagent und dement ist.
Die still gewordenen Wasser der Geheimdienste
werden dank diesem dementen Ex-Kollegen getrübt, weil er beim Besuch seines Enkels ihn einfach erschießt. So jedenfalls die offizielle Version des Chefs von Slough House Jackson Lamb.
Ticket to France
Ausnahmsweise ist der Tote nicht River Cartwright sondern ein Fremder mit einer Fahrkarte nach Frankreich.
Der Dahingeschiedene ist ein sogenannter „Cold Body“, eine Person hinter einer vorgefertigten Identität.
Der echte Enkel befindet sich auf der Flucht. In der Absicht, das Geheimnis seines Großvaters zu lüften, der oft seine Ferien in Frankreich verbrachte und offensichtlich seine nicht zufällige Verbindung mit diesem Ort verschwieg.
INHALTSANALYSE & CHARAKTERISIERUNG
Heruntergekommene Existenzen bevölkern Spook Street. Lebende Geister aus einer früheren Ära oder sogar aus einem früheren Job hängen an einem seidenen Faden. Besonders ihre Hoffnung auf helle Tage des Daseins schwindet beim Lesen auf jeder Seite ein wenig mehr, weil sie der Illusion verfallen, dass sie ermitteln, obwohl sie es nicht tun. Als Gruppe jedenfalls nicht. Als Einzelkämpferinnen sind sie unterwegs. So gleichen sie den Kontrahenten auf der anderen Seite des Kanals, die ihre Überzeugung durch Gewalt effizient zur Schau tragen.
Die Spook Street dagegen glänzt durch Attribute, hätten sie tatsächlich Agentinnen, wären diese dem Tode geweiht.
Die alten und die neuen aus der Spook Street
David Cartwright, der Ex-Agent aus dem Geheimdienst, der inzwischen nichts mehr weiß, sondern nur, dass er einen Enkel namens River hat. Das hält den dementen Mann nicht davon ab, von seiner Waffe Gebrauch zu machen und den Eindringling zu erschießen. Der Tote hat sich als Davids Enkel ausgegeben. Es grenzt an ein Wunder, dass er nicht den echten Enkel erschossen hat, weil der Besucher eine verblüffende Ähnlichkeit mit River hatte.
Slough House ist nicht schlau
Nach diesem Vorfall sind die trüben Wasser der suspendierten Agentinnen im Slough House noch trüber. Sie werden auf die Probe gestellt. Ermitteln mit Erfolgsaussichten oder die Operation abbrechen und versagen auf ganzer Linie?
River Cartwright, der Enkel des Täters, ist ein Agent, der in Ungnade gefallen ist. Er verbringt seine Tage wie die anderen ausgemusterten Kollegen im Slough House, wenn er nicht seinen Großvater besucht. Er macht sich zum Mitwisser und Mittäter, als er versucht Spuren zu beseitigen und die Identität des Toten, den sein Großvater getötet hat, zu verschleiern. Seine Flucht vor dem Dienst ist spontan aber auch überlegt.
Sie führt ihn nach Frankreich in die vergangene Welt einer Kommune, die Amokläufer erzogen hat.
Seine Begegnung mit dem Anführer dieser Organisation zeigt River seine Grenzen und Schwächen.
Willkommen bei den Everglades im Slough House
Das Los der Geheimdienste in Krimis. Es muss fast immer Morast sein.
Jackson Lamb ist der Chef des Slough House. Er ist mehr abwesend als anwesend, während seine langsamen Pferde, das ist sein Team, ihre Schreibtischarbeit mehr oder weniger erledigen. Als es brenzlig wird, taucht er auf, verlottert, vollgepumpt mit Pillen, doch selbstbewusst und macht eine falsche Identifizierung. Dennoch zweifele ich an seinen Absichten, ahnungslos zu spielen.
Ahnung, Absicht, Wahrnehmung, Projektion, Manipulation
Er hat wohl geahnt, wer der verunstaltete Tote war oder besser gesagt, wer er nicht war. Trotzdem hat er ihn als River Cartwright identifiziert. Sein Gespür für alte und neue Loyalitäten führt ihn zum Versteck von David Cartwright. So aktiviert er die alkoholabhängige Catherine, Ex-Chefin von Slough House, die eine Rolle beim Countdown spielen wird. Jackson Lamb besitzt ebenfalls die Fähigkeit Gegner zu deaktivieren in seiner unkonventionellen Art mit einer, je wie man es nimmt, ungewöhnlichen Waffe.
Im Slough House nichts Neues
Frauen sind entweder karrierebewusste Chefs oder alkoholsüchtige Ex-Chefs, unverzichtbare Sekretärinnen ohne Intelligenzambitionen oder Polizistinnen im Dienst, die erfahren müssen, dass sie der Sache und einem Täter nicht gewachsen sind. Aber auch die Männer gefallen sich in dieser Verliererrolle einer losen Gruppe von Burn-Out Patientinnen ohne blassen Schimmer über den Kalten Krieg, das heißt die Vergangenheit ihrer Organisation.
Mit anderen Worten gibt es in Geheimdienstangelegenheiten des fiktiven Slough House nichts Neues.
SPOOK STREET DIE GEHEIMDIENSTLICHE SPÄTMODERNE
FAZIT
Es spukt in der Spook Street. Agentinnen a.D., Agenten im Einsatz, Agentinnen im Outlet. Ausbilder eines Horrortrupps von Selbstmordattentätern, die eine auffällige Gemeinsamkeit haben: sie sind männlich. Eine Verwechslungsparodie mit todernsten Augenblicken, die an Slapstick mit mehr als einer Prise schwarzem Humor erinnert. Aus der Mode gekommene Erziehungsmethoden für einen zur Schau gestellten Geheimdienst. Illusionen sind sehr realistisch hier. Die Ermittlerinnen geraten mehr als einmal in Erklärungsnot, weil ihre Aufklärungsrate in die Tiefe stürzt.
Spook Street erfindet ernste Untertöne für Menschen und Dienste, die sich wichtig nehmen und dabei dissonant werden.
Wie Orte unwichtig erscheinen
So sehr, dass sie unglaubwürdig erscheinen. Sie nähren sogar den Zweifel, ein verspiegeltes Ich der Realität von Diensten vorzustellen, die ihre Arbeit vor der Öffentlichkeit schützen. Dabei werden Namen, Identitäten und Orte unwichtig. Denn sie verbergen statt aufzuklären.
Im Kopf von Spook Street spukt die Karikatur einer Informations-Behörde mit erdachten Ecken und Kanten:
Suspendierung, Pensionsgeld, Altersteilzeit, Arbeitslosigkeit, Bewegungsmangel, Tod aus natürlichen Ursachen, Kollateralschäden.
Der Krimi „Spook Street“ instrumentalisiert Humor. Dieser wird zum Vehikel, Politik zu kommentieren. Auffällig unauffällig.
TEXTAUSZUG
Sie gehörten zum MI5. Heute sind sie ein Pack aus Versagerinnen, die versuchen Morde aufzuklären.
Willkommen im Slough House.
KATEGORIEN
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TATORTE & REISEZIELE
In Regent´s Park
hat das Mutterunternehmen namens britischer Geheimdienst sein Hauptquartier. Slough House ist ein unbedeutender Ableger für alle diese Agentinnen ohne sichtbaren Nutzen, die nicht entlassen werden können. Dieses Gebäude sitzt an der Aldersgate Street. Ein fiktiver Ort inmitten der Londoner Straßenrealität.
Die siebte HMS President (1918)
ist eine Korvette der Anchusa Klasse. Sie wurde 1918 fertiggestellt und gegen U-Boote eingesetzt. Kamufliert sah sie wie ein Handelsschiff aus und war so in der Lage anzugreifen. Ihr ursprünglicher Name war HMS Saxifrage nach der Blume, die ebenfalls London Pride heißt. Sie lag bis 1916 in London auf der Themse am Victoria Embankment vor Anker, bevor sie zu ihrer neuen Besitzerin nach Chatham transportiert wurde. Viele Jahre war sie Übungsschiff der Royal Navy. Nach der Übernahme durch die neuen Besitzerinnen gab es Bemühungen, durch Geldspenden sie renovieren zu wollen.
Victoria Embankment
Im Kriminalroman „Spook Street“ liegt die HMS President noch am Embankment und ist Schauplatz einer hitzigen Debatte zwischen River Cartwright und dem Mann, der sich als sein leiblicher Vater ausgibt.
Die HMS President wird eventuell in nächster Zeit verschrottet,
wenn sie nicht renoviert wird. In Spook Street bekommt sie einen Platz als Schauplatz. So lerne ich über ein Stück aus der Vergangenheit des I. Weltkrieges, das bald nicht mehr Teil der Realität sein wird. Der Sehsinn und der Tastsinn werden unbefriedigt bleiben. Solange es noch möglich ist, werfen wir einen Blick auf dieses Schiff, das Geschichte erzählt, und dank Spook Street Leserinnen neugierig gemacht hat.
Die Kommune abseits eines französischen Dorfes
entwickelt das sogenannte Kuckucks-Projekt und erzieht Jungen zur Gewalt gegen sich und gegen andere Menschen. Die Reise führt den vor seiner Tat geflohenen River Cartwright dorthin und konfrontiert ihn mit seiner eigenen Vergangenheit, die ihm nicht bewusst war. Es kann in der Bretagne sein oder es kann auch an der Loire liegen.
Der Ort ist x-beliebig und die Idylle der Provinz mag trügen.
Ihre Mitglieder wachsen zu erbarmungslosen Killern auf und haben Ziele jenseits des Kanals.