Wenn die Nacht endet | Christoffer Carlsson
BUCHCOVER
Wenn die Nacht endet
Der Blickwinkel bestimmt den Beginn einer Geschichte. Dunst im Morgengrauen. Oder in der Abenddämmerung. Vieles bleibt verborgen für das Auge des Betrachters und der Betrachterin. Die Andeutung von Schemen weist auf den Plot hin, der lange Zeit die richtige Spur auf seinem Weg durch einen undurchsichtigen Fall sucht. Tiefe Wälder und Dickicht überall, Dunkelheit verbreitet sich auch tagsüber. Die spärliche Zivilisation, in Vergessenheit geratene, abgeschiedene Orte, eingehüllt in Tradition, ist nicht weit entfernt und existiert lange ungestört, weil man den Weg dorthin fand, nur wenn man vom Weg abgekommen war. So verhält es sich auch mit scheinbaren Randereignissen des Ganzen.
Die Menschen, die zwischen den Seiten dieser Geschichte ein und aus gehen, verdunkeln das Bild, stören den Gedanken. (…) Ihr Handeln erzeugt einen Widerschein in vollkommen anderen Lebensgeschichten. (Carlsson, Christoffer: Wenn die Nacht endet, 1.Aufl., Hamburg: Kindler, 2024, S. 19-20).
Das Wasser ist zum Greifen nah und wird durch Verspiegelungen sichtbar. Die Grenze zwischen dem Augenblick der Unsicherheit und dem Moment, in dem Klarheit wie Nebel aufkommt, als würden sich Gegensätze gleichzeitig aufheben und ergänzen, wird in diesem Kriminalroman mit seinem stimmungsvollen Buchcover deutlich.
Das Herkunftsland des Romans ist eine Verbeugung vor der Schreibkultur, die sich düster unheilschwangeren Atmosphären verschreibt, den Jahreszeiten und dem Licht zum Trotz, wo der Übergang zwischen Hell und Dunkel fließend geworden ist.
Die Infos zum Buch
Autor: | Christoffer Carlsson |
Verlag: | Kindler Verlag/Rowohlt Verlag GmbH |
Übersetzung: | Ulla Ackermann |
Erschienen: | Mai 2024 |
Umfang: | 464 Seiten |
Preis: | € 24,00(de) |
ISBN: | 978-3-463-00061-9 |
ZIELGRUPPE
Leichtigkeit ist nicht das Motto dieses Krimis. Dunkle Wolken ziehen über eine vernarbte Landschaft und Menschen sind mit dem Land, in dem sie leben, verbunden, als wären sie festgeschnallt. In jeder Hinsicht. Der Tradition atmosphärischer Kriminalromane, die dunkle Abgründe beleuchten, bleibt „Wenn die Nacht endet“ treu. Und wird eine Freude für diese Leser:innen sein, die einen neuen Krimi aus Schweden suchen, oder insbesondere auf Spannung hoffen, die mit unerwarteter Kraft auf eine(n) zukommt. Wo es darum geht, über Grenzziehungen und das Jenseits von Grenzen im menschlichen Verhalten nachzudenken.
Kiki’s Rezension: Wenn die Nacht endet
EINLEITUNG
Die Wahrheit um jeden Preis in einer vertrackten Landschaft aufspüren, in der man sich leicht verlaufen kann, bringt die Polizistin Siri Bengtsson an ihre Grenzen. Als der Fall beginnt, aber auch später, als sie keine Polizistin mehr ist.
Die Wälder zu tief. Keine durch weite Felder gegliederte, offene Landschaft, sondern zahllose kleine Höfe, Ackerflecken, morastige Waldstücke und dunkle Lichtungen.(Carlsson, Christoffer: Wenn die Nacht endet, 1. Aufl., Hamburg: Kindler, 2024, S. 11)
Wie die Landschaft auch die Menschen, die in ihr aufwachsen, sie verlassen oder bis zum Lebensende sie bewohnen, sind undurchdringlich. Für Ermittlungen in einem Mordfall sind die Personen in diesem Kriminalroman durch ihre widersprüchliche Haltung keine große Hilfe. Zur doppelten Last für die Lösung wird der Zugang zum Ort und der Zugang zum Menschen.
Nicht nur der Weg nach Hause, sondern auch der Weg, um die Ermittlungen voran zu bringen, sind ohne Plan, Karte, Rad, Mofa, Auto oder zu Fuß schwierig.
INHALTSANGABE
Wenn die Nacht endet
Mord in Skavböke, 1999
An einem kalten Vormittag des Dezembers 1999 findet ein Bewohner des kleinen schwedischen Ortes Skavböke einen Toten im offenen Kofferraum eines gestohlenen Autos, der nicht weit von einem der Höfe des Ortes steht. Der achtzehnjährige Mikael Söderström wurde ermordet, er ist vorher in einer Party gewesen, die Spuren sind nicht eindeutig, von der Tatwaffe fehlt jede Spur, sogar der Tatort ist nicht der Fundort.
Verdächtige, Ort, Motiv
Die Polizistinnen Gerd Pettersson und Siri Bengtsson aus Oskarström und Halmstadt werden mit den Ermittlungen betraut. Einerseits gibt es Verdächtige ohne Verbindung zum Ort, die ein Motiv haben. Andererseits gibt es Verdächtige, die eine Verbindung zum Ort, aber kein Motiv haben. Die neue Polizistin Siri Bengtsson, die noch nie in einem Mordfall ermittelt hat, befragt die Bewohner der umliegenden Häuser und erfährt von einem Streit unter Jugendlichen. Enttäuschte Liebe, Geld oder Zufall? Eine junge Frau wird umschwärmt. Aber auch Bargeld in größeren Mengen ist in den Bauernhöfen zu finden und wird in der Tatnacht gestohlen. Außerdem ist die technische Spurenlage dünn. Entweder war es keiner von ihnen oder einer von ihnen lügt oder alle lügen, so Siris Einschätzung.
Das Zeltcamp
Drei Jahre später, 2002, wird die Polizistin, deren Ermittlungen im Mordfall Mikael Söderström im Sand verlaufen sind, zu einem Zeltcamp geschickt, um ihn zu räumen. Und trifft dort einen Mann, der ihr bekannt vorkommt und der vor ihr wegläuft. Ein alter Vermisstenfall? Einen Monat später reicht Siri Bengtsson ihre Kündigung ein.
Der zweite Mord in Skavböke, 2022
Der Bruder des ersten Opfers Philip Söderström wird zwanzig Jahre später Opfer eines Gewaltverbrechens. Der Polizist Vidar Jörgensson will mit den Kollegen sprechen, die damals mit den Ermittlungen befasst waren. Und die nicht digitalisierten Akten, die in Kartons lagern, sichten. Die KTU (Kriminaltechnische Untersuchung) ist trotz alter Verfahren recht fix bei der Arbeit. Sicher ist, dass der Täter nach der Tat hergekommen und die Tatwaffe abgestellt hat. Ein Detail, das übersehen wurde. Die damalige Ermittlerin Siri Bengtsson, die inzwischen Tischlerin ist, spricht ungern über den alten Fall, von dem sie annimmt, dass er mit dem neuen Fall zusammenhängen könnte. Und der Erdrutsch? Oder der Einbruch? Der Diebstahl? Noch mehr Ereignisse? Waren sie ein Zufall?
Es ist ein Fall, der nicht geschlossen wurde, die Ermittlungen wurden nicht eingestellt.
INHALTSANALYSE & CHARAKTERISIERUNG
Dreh- und Angelpunkt des Plots ist die Freundschaft zwischen Sander und Killian. Sie treffen sich, als sie Kinder sind, und gehen durch dick und dünn. Bis die Beziehung zu Felicia das innige Verhältnis zwischen den beiden Jungs trübt und nichts ist mehr als es war. Eifersucht, Liebeskummer, Begierde um Besitz und Macht, belasten die Freundschaft. Vor allem sind es die Träume von Killian und Sander, bevor Felicia auf die Bühne tritt, die sie trennen und sie auf dem Weg ins Erwachsenenwerden einen anderen Weg als den gewünschten einschlagen lassen. Am Ende leben sie den Traum des Freundes, nicht ihren eigenen Traum. Sander wollte Skavböke verlassen und studieren, während Kilian ein eigenes Zuhause plante zu bauen. Es kommt alles anderes. Killian stirbt bei einem Autounfall und Sander lebt ein ruhiges Leben in einem Ort in der Nähe Skavbökes mit seiner Familie, in sicherer Entfernung von seiner Jugend.
Sanders Suche und Killians Rettung
Bis die Wahrheit über Killians Tod und Sanders Suche nach Felicias Zuneigung ans Licht kommt, spielt die Zeit dem Fall ein Schnippchen. Sanders Streben nach zu viel Glück und seine Hoffnung, mehr über sich selbst zu erfahren, verstanden zu werden ist sein Bedürfnis. Den Sinn in anderen finden. Menschen am nächsten stehen, die sich trotz der Nähe auf der anderen Seite der Mauer befinden, auf die er nicht zurückkehren konnte. Die Unzulänglichkeit von Worten hautnah spüren. Die Angst um den besten Freund, mit dem er etwas einzigartiges teilt. Die Freundschaft und die Erfahrung einer einschränkenden Intimität. Die Unausweichlichkeit, dass Killian gerettet werden musste und die Erkenntnis, es nicht geschafft zu haben, ihn zu retten. Den Glauben verlieren, weil Sander Killian vermisst und seitdem Schuldgefühle seinen Alltag bestimmen. Die Schuld des Überlebenden wird zur Gewohnheit. Stumme Hilflosigkeit. Eine Leere, die er in anderen sieht, obwohl sie vor allem ihn betrifft und sie damit erträglicher wird. Die Verlockung, in das Unbekannte, im Dunkeln verborgen, zu fliehen.
Er hatte ihnen nichts mehr zu sagen, nichts mehr mit ihnen gemein, bis auf das Haus, in dem er wohnte, und den Ort, an dem er aufgewachsen war. (Carlsson, Christoffer: Wenn die Nacht endet, 1. Aufl., Hamburg: Kindler, 2024, S. 163)
Erinnerungen wie Phantomschmerzen
Als Sander später in den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt, ist er hin und her gerissen zwischen vertrauten Empfindungen und dem Gefühl, nie hier gelebt zu haben. Als sei er niemals aufgebrochen und auch nie zurückgekehrt. Ambivalenz. Doch der Albtraum, den er lange nicht mehr gehabt hat, ist wieder präsent, als würde er ihn auf ein zersplittertes Spiegelbild erinnern wollen. Die Erinnerungen sind wie Phantomschmerzen. Zwischen Früher und Später, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Wegen vorher und nachher. Er weiß nicht mehr, wer er ist und wer er sein muss, obwohl es sein innigster Wunsch gewesen ist, mehr über sich selbst zu erfahren. Die Orientierungslosigkeit verursacht ihm körperliche Schmerzen.
Wenn die Nacht endet
FAZIT
Ein Schlusspunkt näherte sich, ein Schlusspunkt, an dem alles ein Ende haben würde. (Carlsson, Christoffer: Wenn die Nacht endet, 1. Aufl., Hamburg: Kindler, 2024, S. 154)
Auch die Ermittlungen, die erneut aufgenommen werden, nähern sich ihrem Ende. Denn die Zeit ist reif, den Blickwinkel zu ändern, vielleicht sogar zu ergänzen, um zu begreifen, was passiert ist, mit welchen Folgen für alle Beteiligten. Die Fakten von Gerüchten trennen. Impulstaten mit Konsequenzen bewusst wahrnehmen. Maßnahmen und Schritte, die in der korrekten Reihenfolge waren, bewerten. Korrigierte Aussagen unter die Lupe nehmen. Die zeitlichen Sprünge zwischen bruchstückhaften Ereignissen vor und zurück in ein sinnvolles Ganzes zusammenfügen. Für Verdächtige, Mörder, Opfer, Vermisste, Polizisten, Familienmitglieder. Keine Chance zur Flucht. Kein Wille zur Rückkehr.
Der andere Blickwinkel
Der Wechsel des Blickwinkels auch für den ermittelnden Polizisten läutet gleichzeitig den Anfang vom Ende, der zur Aufklärung des Falls führt. Die Zusammenhänge verstehen und damit umgehen können. Gespenstisch spannend, nach so langer Zeit den Mörder zu finden, ihn zur Strecke zu bringen. Das Bild von einem anderen Mitmenschen bricht zusammen. Der Wermutstropfen sind die weiteren Toten, die aus der Gegenwart des Kriminalromans „Wenn die Nacht endet“. Und das Wissen um einen Mitwisser, der sein Schweigen bricht. Nicht ohne Konsequenzen.
Eine lange Nacht geht am Schluss des Kriminalromans „Wenn die Nacht endet“ zu Ende.
Ort der Handlung: Skavböke, irgendwo in Halland Iän, westliches Südschweden
Nydala
Der Ermittler Vidar Jörgensson besucht die ehemalige Polizistin Siri Bengtsson, die ihr Tischler-Atelier in der Nähe eines Naturreservats betreibt.
Kilians Häuschen, Skavböke
Die Polizistinnen Gerd und Siri besuchen Killian, treffen dort Felicia und nehmen von Killian eine Blutprobe.
Das Haus der Familie Söderström
Eine Kiste Dynamit, die im Keller lagerte, wurde in Brand gesteckt und die Explosion hat den Erdrutsch ausgelöst.
Erdrutschstelle, Skavböke
Philip Söderström wird an der Stelle ermordet, wo sich früher das Haus seiner Familie befunden hat, bevor es bei der Explosion zerstört wurde.