Urs der Berserker | Max Bronski

BUCHCOVER
Urs der Berserker

Vorübergehend geöffnet. Die Pension, die Urs Zobel in der Nähe des Münchener Hauptbahnhofs führt, hat mehr Personal als Gäste. In einem Bezirk, wo Häuser billig zu kaufen waren, um später im Wert zu steigen, so im Buch. Leuchtreklame betont die Vakanzen und lädt zum Lesen ein. Was sich hinter geschlossenen Fenstern und leeren Zimmern verbirgt, sind Brennpunkte. Die Geschichte von Urs beginnt beim Buchcover. Sein Gästehaus hat wenig Gäste und viele Probleme. Das Ziel ist aufzuräumen.

Die Infos zum Buch

Autor: Max Bronski
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Übersetzung: ./.
Erschienen: März 2023
Umfang: 248 Seiten
Preis: €18,00 (de)
ISBN: 978-3-96054-315-2

ZIELGRUPPE

Kriminalistische Verköstigung, die leicht bis mittelschwer ins Absurde neigt, weil Urs der Berserker mental und körperlich verwirrt zu sein scheint. Zeitvertreib mit jeder Menge rasant nachdenklicher Aktionskomik, der Aggressionsschüben auf Schritt und Tritt folgt. Die Hauptfigur flieht zum Beispiel über den Dächern zur Wohnung seines Angestellten Erwin und dann auf die gegenüberliegende Straßenseite, um Hilfe zu holen, weil er sich von einem unbekannten Mann in seinem Hotel bedroht fühlt.

Wie weit ist der Plot in seinen Bestandteilen und im Ganzen von der Realität entfernt?

Kiki’s Rezension: Urs der Berserker

EINLEITUNG

Der Autor beschäftigt sich in seinem neuen Kriminalroman sowie schon in „Mad Dog Boogie“ und „Oskar“ mit Gedächtnisverlust oft nach dem Genuss psychoaktiver Substanzen. Und Gewalt in ihren Ausdrucksweisen. Von Berserkern ist die Rede, ihren Ursprüngen und ihren Umzügen hinaus in die weite Welt. Als wilde Helden bekleidet in bloßer Wikingerromantik erreichen sie den Antihelden dieser Geschichte mitten im deutschen Süden.

 

INHALTSANGABE
Urs der Berserker

Die Hauptfigur ist Urs Zobel, der das Hotel seines Vaters führt und seine Zeit meistens auf dem Dach verbringt. Das Haus liegt in der Nähe des Bahnhofs. Was ihm bedeutsam erscheint, notiert dieser Pensionsbetreiber, als würde er Tagebuch führen. Er kann sich das leisten, Besucher umsonst zu beherbergen. So auch den sichtbar mittellosen Igor aus Sibirien, der ihm eine Flasche getrockneten Fliegenpilz in Wodka eingelegt schenkt und von seiner Rauschwirkung schwärmt.

Ich goss mir einen Fingerbreit ein. Der Extrakt roch faulig.

(S. 19)

Nach dem Genuss des Geschenkes tritt bei Urs tabula rasa ein. Und nach dem Aufwachen, weiß er nicht mehr, wie es dazu gekommen ist, dass eine Frau aus dem Zimmerservice die Nacht mit ihm auf dem Dach verbracht hat. Mitten im Rauschzustand wird er Zeuge eines Unfalls mit Fahrerflucht, bei dem er im Fluchtauto einen Bekannten aus alten Tagen zu erkennen meint, der ihm damals Leid zugefügt hat. Der Mix aus Alkohol und Fliegenpilz und der Unfall, bei dem Urs Augenzeuge wird, durchwühlen sein bereits geschädigtes Erinnerungsvermögen einerseits, erlauben ihm die Selbsterkenntnis seines verwirrten Zustands andererseits.

Ich verfügte über keine genaue Erinnerung mehr an meine Eskapaden. Das war beunruhigend.

(S.10)

 

Die unverfängliche Version des Augenzeugen

In diesem Nachrauschzustand wird der Erzähler Augenzeuge eines Unfalls, bei dem Passanten sterben oder schwer verletzt werden. Er erhascht einen Blick auf Fahrer und Beifahrer und meint einen alten Bekannten zu erkennen. Die Täter sind flüchtig. Weil Urs einer von denen, die etwas gehört und beobachtet haben, ist, wartete er auf der Straße, bis er in das mobile Büro der Polizei gebeten wird. Als er an die Reihe kommt, erzählt er eine unverfängliche Version der Ereignisse und spart seine persönliche Geschichte aus. Derweil berichten andere Augenzeugen von ihrer Überzeugung, dass der Unfall ein islamistisches Attentat sei. Urs glaubt stattdessen an eine Falschmeldung, die sich über soziale Medien und Zeitungen verbreitet, insbesondere weil sie fruchtbaren Nährboden findet, das Bedürfnis nach einem Motiv und die allgemeine Zustimmung zu befriedigen und die Angst, die sich eingeschlichen hat, zu besänftigen.

Der Augenzeuge Urs sieht etwas anderes als alle anderen Augenzeugen.

Diese Wahrnehmung macht ihn zum Jäger. In der Tiefgarage eines leerstehenden Hotels an der Senefelder Straße findet er das Tatfahrzeug und informiert die Polizei.

 

Schillerstraße oder Jahrmarkt

Ab diesem Zeitpunkt verlässt der ansonsten unauffällige Urs seine Komfortzone und sucht in eigener Regie nach den Eigentümern von Bars und Lokalen diesseits und jenseits der Schillerstraße, weil sein noch vernebelter Kopf eine Verbindung zu den geflohenen Tätern sieht. Vor allem sind es heruntergekommene Immobilien, die man billig kaufte und teuer verkaufte, die ihn interessieren. Im Durcheinander der Erinnerungen taucht die Geschichte seines Vaters als erfolgreicher Hotelier auf und sein eigenes persönliches Erlebnis, das ihn gar nicht mehr loslässt, seitdem er die Insassen des Fluchtautos erkannt hat. So fasst er sich ein Herz und sucht Kontaktpersonen im Rotlichtmilieu auf, die ihm über Immobilieneigentumsverhältnisse Auskünfte geben können und ihn vor unangenehmen Besuchern schützen werden.

 

Urs, der Eigenbrötler – Urs, der Einzelgänger

Unter diesen Umständen wird Urs verhaftet, weil der Polizei die Information zugespielt wird, dass die Pistole eines gewaltbereiten Besuchers in seinen Hotelräumen zu finden ist. Nebenbei vertritt der Verhaftete die singuläre Meinung, dass das Ganze nicht auf ein islamistisches Attentat, sondern auf eine Auseinandersetzung im Quartier zurückzuführen ist. Weil seine Meinung zum Mord von dem Glauben der Mehrheit abweicht, ist er allein unter vielen.

 

Eltern, Kind, Orte, Mutter

Sein lange Zeit zurückgehaltener Zorn kocht hoch in andächtiger Manier, so dass er vor allem seine Eltern verflucht, weil sie ihn zu Hause und besonders bei einer Auslandsreise in Stich gelassen haben.

Barfrau, Wirt, Putzhilfe, Köchin oder Portier lasen mich auf und schoben mich wieder eine Station weiter, bis ich endlich meinen Stafettenlauf im Kindergarten zu Ende brachte.

(S.140)

Ich gehörte immer dahin, wo ich gerade angelandet war. Es gab keine Personen oder Orte, die für einen verbindlichen Aufenthalt hätten stehen können.

In Sardinien der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird Urs´ Familie während ihres Urlaubs entführt. Für den Jungen verlangen die Banditen Lösegeld und stellen Forderungen, die der Vater nicht erfüllen kann.

 

INHALTSANALYSE & CHARAKTERISIERUNG

Selbstgefährdung und Sinneswahrnehmung

Die Anstrengung sich zu erinnern erschwert die Erinnerung.

Je mehr wir darum bemüht sind, desto widerstrebender gebärden sich die Details. Sie werden glitschig, und plötzlich tauchen Überlagerungen auf, die sich anheften.

(S. 67)

Neben seinen Reisen in Erinnerungen besitzt der Hauptakteur die Gabe, die Umstände seiner Sinneswahrnehmungen, insbesondere in Folge eines Rausches, akribisch zu rekapitulieren, wobei sein Gespür für Selbstgefährdung nicht besonders ausgeprägt ist. Der Urs Charakter balanciert auf den Firsts und erzählt, wie er seine Angst überschritten hat, so dass er keine Angst mehr hat.

 

Der ansonsten vorsichtige Urs

überhört die Warnung des inzwischen spurlos verschwundenen Besuchers aus dem Nordosten und gießt sich mehr aus dem Getränk ein, während er sich dem Haushaltsputz minutiös widmet. Er übersieht die Warnsignale seiner Wahrnehmung, die ihm jedes Detail übergroß darstellt, seinen Sinnen sogar aufs Tablett präsentiert. Die Überschreitung der Grenzen fällt ihm leicht und die beinah sinnliche Betrachtung der Nebenwirkungen verschmilzt mit seinem Rauschzustand. Er schweift aus und schmückt die Geschichte mit Details aus.

 

Das zeitliche Durcheinander

Urs denkt über den eigenen Zustand nach dem Aufwachen. Kühle Betrachtungsweise. Wie die Kunst des Philosophierens. Bei einem Neuling unter den Berserkern landet er hemmungslos in  den anderen Zustand, in dem er betont exhibitionistisch darüber berichtet und gleichzeitig seinem Tagesablauf nachgeht. Dabei spielt Zeit keine oder doch eine Rolle, weil er seine Erinnerungen durcheinander träumt. Seine philosophische Ader schlägt nach der Unpünktlichkeit des Todeszeitpunkts, dem Sinn des Sterbens und dem Richten nicht nur über die eigene Existenz sondern auch über die Existenzen anderer Menschen.

Dieses Durcheinander der Zeiten und Situationen folgte keiner fassbaren Linie, die Erinnerung, was genau mir widerfuhr, war bald danach ausgelöscht, alles, was ich noch festhalten konnte, fiel in dem Satz zusammen: Das also ist dein Leben!

(S. 20)

 

Die nordischen Sagen

Der Besuch von Igor beeindruckt Urs so sehr, dass er die nordischen Göttermythen lesen will. Es gibt Parallelen zu Oedipus Saga, der Königssohn, der sich mit seiner Mutter vermählt, ist hier die Königstochter Yrsa, die ihren Vater heiratet. Urs vertieft sich in Männer- und Frauenrollen der Mythen Skandinaviens. In Zeiten großer Not, wobei verkatert zu sein und ein Schock erlebt zu haben auch dazu zählt, zieht es Urs aufs Dach bei dem Gefühl, eine andere Ordnung für Gedanken und Sorgen erfinden zu können, ohne es mit jemandem teilen zu müssen.

 

Der Gleichgültige

Urs Gleichgültigkeit gegenüber der Vermehrung von Vermögenswerten und den Veränderungen an der Straße, an der er seine Pension führt, bedingen die Entscheidung, die Hälfte des Hauses, das ihm sein Vater geerbt hat, zu verkaufen und sie einem dem Rotlichtmilieu affinen Etablissement zu verpachten. Mittlerweile bedient sein kleines Hotel meistens Laufkundschaft. Es ist eine Befreiung von Sorgen um Rechnungen, Reparaturen, Nachbarn und Ärger mit den Behörden wegen der Nutzung der Immobilie. Er kümmert sich nicht um die eigenen Immobilienangelegenheiten, weil sie ihn nicht interessieren und weil er nichts davon versteht. Nichtsdestotrotz trifft ihn die Straßensperrung aufgrund des Unfalls schwer, weil die Gäste ausbleiben.

 

Der Hotelier im Dienste des Kunden

Urs verlässt die Bequemlichkeit seiner Apathie, wenn eine Kontaktaufnahme zwischen Tür und Angel, indirekt und über Umwege in seinem Arbeitsplatz stattfindet. Er verliert lieber einen Hotelgast, statt servil zu sein. Auf dieser Weise steckt Urs voller Widersprüche, denn er hat privat mit den eigenen Lücken zu kämpfen, während er Zwischentöne und Empathie in seinem Hotelgewerbe verwirft.

 

Von der Nostalgie der Absencen

Fast nur ausschließlich Absencen, die er auf seine vielen Flashbacks zurückführt, sind ihm eine willkommene Abwechslung vom Alltag eines Nostalgikers, der an früher denkt, als sein Vater bekannt und erfolgreich im Viertel war und ihm mehrere Häuser gehörten. Die Wiederholung früherer Szenen aus seinem Leben ist Balsam und gleichzeitig Last auf seiner Seele, denn von all diesen Gütern ist nur die eine Pension übrig geblieben.

 

Projektion oder Wirklichkeit

Wie automatisch reagiert er, als die Erinnerungen an den vergangenen Rausch hochsteigen, ein ruckartiges Zeitempfinden einsetzt. Die Zeitebenen erscheinen montiert. Selbstbetrachtung hat Priorität vor dem Erzählen der Ereignisse und ist gleichzeitig ein Weg, die Spannung zu erhöhen.

Die Umgebung verwandelte sich in eine unwirkliche Kulisse, als sei sie nichts weiter als meine Gedankenprojektion.

(S. 33)

In diesem Zustand wird Urs Zeuge des Unfalls auf der Straße vor seiner Pension, daher ist er sich nicht absolut sicher, ob das, was er gesehen hat, ein Ergebnis seiner Einbildung ist. Er hat bereits Erfahrung mit Einsamkeit, als er während der Entführung gefangen gehalten wurde und nach Ablenkung gesucht hat. Solange es nötig ist, sucht er einen Ausweg aus dem Durcheinander seiner Überlegungen, wie die Menschen, die er kennt, in der Geschichte verstrickt sind. Um Ordnung im Chaos zu bringen, geht er die Stationen seiner Probleme durch.

 

Die angebetete Zufallsbekanntschaft

Olga steigt aus Mitleid zu Urs aufs Dach, weil sie denkt, er schlafwandelt. Ihre Hilfsbereitschaft wird auch für sie lebensgefährlich. Sie gibt sich nach dem Unfalltod ihres Vaters die Schuld und wird depressiv. Urs zur Hilfe zu kommen ohne Rücksicht auf Verluste ist für Olga eine Distanzierung von den Schuldgefühlen, ihr Tun habe den Tod eines Menschen verursacht. Die Geschichte wiederholt sich, denn kennengelernt haben sie sich, als Olga Suizid begehen wollte und Urs ihr zunächst ein Dach über den Kopf angeboten hat. Anteilnahme und die Verbundenheit, familiäre Krisen erlebt zu haben, verbindet die beiden und räumt ihnen Chancen in der Welt der Lebenden ein. Der Job im Hotel kommt für Olga erst viel später.

Jeder Entschluss, der nicht zur Tat kommt, verheddert sich immer mehr in ein Gestrüpp von Zweifeln, kein Gedanke gerät an ein gutes Ende, sondern bewegt sich in einem quälenden Kreis zum Ausgangspunkt zurück.

(S. 25)

 

Weitere angesprochene Themen

München und seine demographische Entwicklung um den Hauptbahnhof

Sperrbezirkspolitik

Ausstattung an Prostituierte verkaufen, die mobil bleiben wollen und sich keinem Haus verpflichten

Zu Beginn Schnellimbiss und Stehausschank, Fortsetzung mit Striptease-Bar und Spielsalon

 

Das Drama in Sardinien

repräsentiert im Buch die Fremde, in der die konfliktreiche Beziehung zwischen Mutter, Vater und Kind sich zuspitzt und dem Alleingelassen Sein eine primäre Bedeutung zukommt.

 

Urs der Berserker
FAZIT

Das immer wiederkehrende Motiv des Milieus des Hauptbahnhofs mit seinen Rotlichtniederlassungen im Wohngebiet, das zufällige Reisende bedient, ist die Heimat eines Gestrandeten ohne Ambitionen. Die Vorläufigkeit des Bahnhofs als Zustand zwischen Abreise und Ankunft wird jäh durch das Schlüsselereignis des Unfalls unterbrochen und zwingt die Hauptfigur einen endgültigen Strich unter seine Erinnerungen zu ziehen, um nach vorne blicken zu können. Auch weil die alte Erfahrung, sozusagen das unverarbeitete Trauma, seine Welt ins Taumeln bringt, und ihn zum Begradigen und Bereinigen zwingt.

Philosophierend über die unendliche Zeit und den unendlichen Raum überschreitet der Erzähler die Grenzen zwischen Zuschauer und Ermittler, zwischen Unbeteiligtem und Berserker, zwischen Vater und Sohn, aber auch zwischen Mutter und Sohn, in der leisen Hoffnung, den Schlussstrich zu ziehen.

Ort der Handlung: München, Deutschland

Schillerstraße

Der lebensmüde Urs schaut auf die Straße runter und sieht Bilder wie Schaumblasen hoch zu ihm steigen. Benebelt und ohne herabzustürzen. Das Unfallfahrzeug beugt von der Bayerstraße in die Schillerstraße ein und Urs gibt einen eher unzuverlässigen Zeugen ab. Nach dem Unfall abgeriegelt für Passanten und Durchgangsverkehr.

Theresienwiese

Sie war außerhalb der Veranstaltungen und Feste ein ödes, von Teerstraßen durchzogenes Oval.

Bei seiner Suche nach dem Fluchtweg des Unfallfahrzeugs erreicht Urs die Theresienwiese als das einzig logische Ziel geradeaus für einen in Panik geflohenen, denn alle anderen Wege sind durch Schranken abgesperrt.

Nussbaumpark

Gegenüber der Medizinischen Klinik. Urs vereinbart ein Treffen mit einem Mann, der ihm Informationen geben kann, und stolpert über einen Toten.

Porto Cervo, Sardinien

Hafenstadt auf Sardinien, in der Urs´ Vater den Familienurlaub bucht, ohne zu beachten, dass dieser Ort ein Paradies für ältere Erwachsene und alteingesessene Kriminelle ist, so im Kriminalroman „Urs der Berserker“.

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